Es hilft nicht, alle Kategorien aufzulösen…
Kurzbericht Pädagogische Tagung 2020: „Leit(d)-Orientierung Heterogenität?! – Komplexe Fragen an das Lehrerhandeln“
Hohe Übertrittsquoten von der Grundschule an das Gymnasium offenbaren dessen ungebrochene Attraktivität. Dies ist einer der Gründe für die zunehmende Heterogenität der gymnasialen Schülerschaft, was sich zwangsläufig auf die Unterrichtsgestaltung auswirkt. Dissens in der Bildungsdiskussion entzündet sich an der Frage, ob Heterogenität eine Belastung oder Chance ist. Was taugen Konzepte innerer Differenzierung, um Individualisierung – bei gleichzeitigem kooperativem Lernen – zu ermöglichen? Kommt es – wie Kritiker befürchten – zu einer Absenkung des Niveaus in stark leistungsheterogenen Lerngruppen. Wird Machbarkeit nur suggeriert oder auch eingelöst? Wie kann das Gymnasium unter diesen Voraussetzungen seinen speziellen Bildungs- und Erziehungs(mehr)wert sichern?
Referentinnen und Referenten sprachen auf Einladung des Pädagogischen Ausschusses des hphv aus der Sicht der Wissenschaft und des Hessischen Kultusministeriums zum Thema. Unter der Tagungsleitung des neuen PA-Vorsitzenden Christoph Juretschke hatten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer – unter ihnen die Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing – Gelegenheit zur Diskussion mit den Vortragenden. In Arbeitsgruppen wurden Einzelaspekte vertieft betrachtet.
Wie viel Heterogenität verkraftet der gymnasiale Bildungsgang?
Das erste Grußwort kam vom langjährigen Vorsitzenden des Pädagogischen Ausschusses Reinhard Schwab, der in seiner neuen Funktion als Vorsitzender die Grüße des Hessischen Philologenverbandes überbrachte und einige Aspekte des Tagungsthemas ansprach. So lautet nach seiner Einschätzung die entscheidende Frage: Wie viel Heterogenität verkraftet der gymnasiale Bildungsgang? Ein Problem sei seit geraumer Zeit, dass soziale und gesellschaftliche Probleme immer mehr in die Bildungseinrichtungen verlagert würden. Lehrkräfte seien die integrierende Kraft in heterogenen Klassen und sollten den Spagat leisten können zwischen ‚Freund’ des Lernenden einerseits und dessen ‚Herausforderer’ andererseits; ein zugewandter Freund, der von einer „reifen Position“ aus agiere. Lehrkräfte wirkten mit ihrer Persönlichkeit auf die Lernenden, sollten sich ihrer Persönlichkeit bewusst sein und natürlich mehr als nur ein Lernbegleiter sein.
Heterogenität als ein grundlegendes Kennzeichen von Lebewesen und Materie
Matthias Rust, Geschäftsführer der Landesarbeitsgemeinschaft Schule/Wirtschaft Hessen, ging in seinem Grußwort von Heterogenität als einem grundlegenden Kennzeichen von Lebewesen und Materie aus und schlug einen Bogen von der Situation in Schulen zu der in Betrieben und Unternehmen. Für beide Bereiche zeigte er Herausforderungen und Grenzen, aber auch Chancen auf.
Inklusion – Gymnasien auf der Anklagebank
Prof. Dr. phil. Bernd Ahrbeck, Professor für Psychoanalytische Pädagogik an der IPU Berlin, sprach zum Thema „Inklusion – Gymnasien auf der Anklagebank“ und ging zunächst auf Forderungen und Kritikpunkte der UN bezüglich der Umsetzung der Behindertenrechtskonvention in Deutschland ein. Er sprach Ergebnisse von Grundschuluntersuchungen zur Inklusion an sowie das Für und Wider der Auflösung von Förderschulen. Die Beschulung an diesen sei keine Menschenrechtsverletzung, vielmehr leisteten sie einen wichtigen Beitrag zur Erfüllung der Bedürfnisse und zur Förderung einer Reihe von Schülerinnen und Schülern. Heterogenität helfe nur, solange sie moderat sei. Das in der Gesellschaft teilweise vorhandene Streben nach einer unendlichen Vielfalt kennzeichnete er als hoch problematische Auflösung der Kategorien und warnte davor, Menschen mit Behinderung aus ideologischen Gründen zu instrumentalisieren.
Arbeitsgruppen: konkrete Ansatzpunkte für die unterrichtliche Arbeit im pädagogischen Alltag
„Förderung der Lesekompetenz in heterogenen Lerngruppen“, „Interkulturelle Kompetenz“, „Pädagogische Herausforderungen durch Heterogenität und ihre Grenzen“ sowie „Unterstützungsmöglichkeiten für Lehrkräfte“ waren die Themen der Arbeitsgruppen. In diesen fand ein reger Ideen- und Erfahrungsaustausch statt. Ziel war die Entwicklung konkreter Ansatzpunkte für die unterrichtliche Arbeit im pädagogischen Alltag.
Umgang mit Heterogenität – Differenzierung im Unterricht
Prof. Dr. Dorit Bosse, Professorin für Schulpädagogik mit dem Schwerpunkt Gymnasiale Oberstufe an der Uni Kassel, sprach zum Thema „Umgang mit Heterogenität – Differenzierung im Unterricht“. In Bezug auf die Differenzierung sprach sie von Stufen des Lernens (nach Hattie) vom Anfänger zum Geübten und zum Fortgeschrittenen. An dem anschaulichen Modell eines Eisberges entwickelte sie die Oberflächen- und Tiefenstruktur von Unterricht (Reusser). Diagnose der Kompetenzen und Lerntypen sowie Transparenz bezüglich der Leistungsanforderungen erläuterte die Referentin als Voraussetzungen zum Umgang mit Heterogenität. Zudem stellte Frau Prof. Bosse in ihrem sehr an der Praxis orientierten Vortrag Aufgabenformate – z.B. mit gestuften Lernhilfen – und Möglichkeiten individueller Leistungspräsentation vor.
Heterogenität – Zugänge aus systemischer Praxis
Markus Hochbaum, Systemischer Kinder- und Jugendtherapeut, Lehrer am Lessing-Gymnasium Lampertheim, sprach zum Thema „Heterogenität – Zugänge aus systemischer Praxis“. Ausgehend vom Ursprung des Wortes stellte er fest, dass jeder Mensch anders sei. Ein Problem entstehe, wenn die Andersartigkeit störend oder bedrohend wirke, wobei ein Machtgefälle als Verstärker wirke. Am Beispiel eines respektlosen Verhaltens eines Schülers gegenüber einer Lehrerin verdeutlichte er die „Last der Kommunikation“ (Luhmann). Kurze Gruppenarbeitsphasen nutzend entwickelte er mit den Zuhörenden, durch welche Personen und Gruppen (Systeme) die Kommunikation aufgrund ihrer unterschiedlichen Rollen beeinflusst wird. Auch erläuterte er unterschiedliche Kommunikationsstile und Komunikationsmuster.
Besuch aus dem HKM : Ulrike Haarmann-Handouche
Ulrike Haarmann-Handouche vom Fachreferat individuelle Förderung im Hessischen Kultusministerium zeigte einige Aspekte von Heterogenität innerhalb der Schülerschaft auf und wies auf Unterstützungsangebote seitens des HKM hin, damit die Schulen dem hohen Anspruch gerecht werden könnten. Sie riet beim Übergang von Klasse 4 nach Klasse 5 zu einer Zusammenarbeit zwischen Grundschul- und Gymnasiallehrkräften. Bezüglich der individuellen Förderung sei – so die Referentin – die gymnasiale Leistungsanforderung die Grenze. Frau Haarmann-Handouche erläuterte eine Reihe von Auswirkungen auf die Praxis und stellte fest, dass eine schulartspezifische Anpassung des Lehrerberufsbildes notwendig sei.
In den Diskussionen wurde immer wieder deutlich, dass die Nichterreichbarkeit von Leistungsanforderungen eine Grenze von Heterogenität und individueller Förderung am Gymnasium darstellt. Chancen und Bildungsgerechtigkeit werden nicht durch stetiges Absenken der Anforderungen am Gymnasium erreicht. Auch besonders leistungsstarke und leistungswillige Schülerinnen und Schüler bedürfen einer Förderung.
Der Hessische Philologenverband fordert daher, dass die Bildungsziele des Gymnasiums vertiefte Allgemeinbildung, Wissenschaftspropädeutik und Erreichen der Studierfähigkeit erhalten bleiben müssen. Die personellen und sächlichen Mittel müssen bereit gestellt werden, um in diesem Rahmen eine individuelle Förderung zu ermöglichen.
Den ausführlichen Bericht über die Pädagogische Tagung finden Sie in der Ausgabe 2/2020 von „Blickpunkt Schule“.
Angelika Kiene-Bock und Dr. Iris Schröder-Maiwald