DPhV: IQB-Bildungstrend bestätigt nachlassende Schülerleistungen / Fehlende Lehrbefähigung vieler Lehrkräfte weiterhin blinder Fleck deutscher Bildungspolitik / Gymnasiallehrkräfte tragen zu hohe Lasten, während Leistungsförderung politisch vernachlässigt wird
Der Deutsche Philologenverband (DPhV) sieht in den schlechten Ergebnissen des IQB-Bildungstrends 2024 nicht nur das gesellschaftliche Problem unzureichender Schülerleistungen, sondern auch das einer tiefgreifenden politischen Fehlsteuerung in der Einstellung und Ausbildung der Lehrkräfte sowie eine Vernachlässigung der gymnasialen Belange. Immer mehr Lehrkräfte unterrichten in allen Schularten ohne ausreichende Lehrbefähigung – eine Ursache für sinkende Kompetenzen in Mathematik und den Naturwissenschaften. Geht die Politik diesen Weg weiter, steuern wir in eine Bildungskatastrophe! Auch das Gymnasium wird die von ihm geforderten Leistungserträge nicht mehr erbringen können!
Laut Studie verfügt ein erheblicher Anteil der Lehrkräfte in den getesteten Klassen nicht über eine Lehrbefähigung im jeweiligen Fach: an Gymnasien rund 7–9 Prozent, an nichtgymnasialen Schularten 14–21 Prozent. Zudem werden zunehmend Quer- und Seiteneinsteigerinnen und -einsteiger eingesetzt, die keine vollwertige Lehramtsausbildung an der Universität und im Studienseminar abgeschlossen haben.
DPhV-Bundesvorsitzende Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing: „Die vom IQB-Bildungstrend offenbarten Leistungsstände sind nicht isoliert zu bewerten – sie spiegeln auch die Bedingungen wider, unter denen Schülerinnen und Schüler lernen. Dazu gehören eine insgesamt sinkende gesellschaftliche Leistungsorientierung, große Mental-Health-Probleme der Kinder und Jugendlichen (insbesondere nach der Corona-Pandemie), fehlende sprachliche Förderung im Elternhaus und in der Schule sowie ein andauernder Lehrkräftemangel, häufig kombiniert mit fehlenden fachlichen und didaktischen Qualifikationen vieler „Ersatz“-Lehrkräfte, die von der Politik eingesetzt werden, um die gesetzlich vorgegebenen Unterrichtsstunden irgendwie abzudecken. Wird ein erheblicher Teil des Unterrichts in Mathematik und Naturwissenschaften von Lehrkräften ohne ausreichende Lehrbefähigung erteilt, sind die schlechten Ergebnisse der Studie nicht verwunderlich. Sie zeigen auch, was die Länder bei der Einstellung, Aus- und Weiterbildung ihrer Lehrkräfte kontinuierlich versäumt haben. Dadurch bleiben Fragen von Schülerinnen und Schülern unbeantwortet, Zusammenhänge unverstanden und Lernanreize unerkannt. Nachhaltiges Lernen und die damit verbundene Steigerung der Schülerleistungen unterbleiben. Es muss endlich wieder konsequent in eine fundierte, vollumfängliche Lehrkräftebildung investiert werden. Denn wenn der Staat nicht professionell aus- und weiterbildet, kann er keine ausreichende Bildung der Schülerinnen und Schüler gewährleisten.“
Das Fazit das Bildungstrends stimmt sorgenvoll: In allen untersuchten Fächern werden die Regelstandards seltener erreicht und die Mindeststandards häufiger nicht erreicht als 2012 und 2018. So verfehlen aktuell knapp 9 Prozent aller Neuntklässlerinnen und Neuntklässler im Fach Mathematik den Mindeststandard für den Ersten Schulabschluss (ESA) und etwa 34 Prozent den Mindeststandard für den Mittleren Schulabschluss (MSA). Nicht alle Bundesländer beteiligen sich dabei in gleicher Weise an der Untersuchung, Hamburgs Teilnahmerate etwa liegt bei nur 80 Prozent (insgesamt liegt sie bei rund 91 Prozent). Auffällig ist auch: Von der Entwicklung sind nicht nur leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler betroffen, sondern auch Gymnasiastinnen und Gymnasiasten. Die Ergebnisse betreffen alle 16 Bundesländer, auch wenn Bayern, Sachsen und Schleswig-Holstein beispielsweise für die Mathematik insgesamt besonders gute Ergebnisse verzeichnen.
An Symptomen herumzudoktern, hilft nicht weiter. Neben den Verweisen des IQB auf die Gutachten der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission, z.B. für den erfolgreichen Übergang von der Sekundarstufe I in die berufliche Ausbildung, fragt der Deutsche Philologenverband gerade auch vor dem Hintergrund der zurückgehenden gymnasialen Schülerleistungen:
Hat die Politik aus Studien wie PISA, TIMSS, IGLU und den Bildungstrends die richtigen Konsequenzen gezogen? Diese empirischen Untersuchungen können in der Regel aufzeigen, was der aktuelle Leistungsstand in bestimmten Kompetenzbereichen ist, nicht jedoch, warum er so ist. Sie erfassen einen Ist-Zustand zu einem bestimmten Zeitpunkt, ohne Fragen zu kausalen Zusammenhängen beantworten zu können. Bildungsministerinnen und -minister müssen und wollen damit politisch steuern, ohne die Sicherheit zu haben, dass ihre ergriffenen Maßnahmen tatsächlich die richtigen für alle sind. Deshalb wurden nun seit mehr als 20 Jahren Bildungsstandards eingeführt und gewünschte Kompetenzen immer präziser beschrieben, doch die politische Unterstützung für die Umsetzung der angestrebten Veränderungen im Unterricht bleibt deutlich hinter den gesetzten Ansprüchen zurück.
Blickt man aus der Perspektive des Gymnasiums und der Gymnasiallehrkräfte auf die bildungs- und berufspolitisch gesetzten Schwerpunkte der letzten 25 Jahre, werden folgende Defizite klar:
- Eine besondere Anforderung für den „höheren Dienst“ bestand für Gymnasiallehrkräfte im Bestehen des 24-monatigen Vorbereitungsdienstes für einen anspruchsvollen gymnasialen Unterricht. Bis auf Bayern haben alle Bundesländer diese Anforderung zusammengestrichen, (teils auf 12 Monate) und entsprechende Einsparungen vorgenommen.
- Eine schulartspezifische Lehrkräftebildung für das Gymnasium ab Klasse 5 ist in fast allen Bundesländern zunehmend vereinheitlicht worden – in ein Lehramt für die Sekundarstufe I.
- Fast alle Bundesländer haben die gymnasiale Lehrkräftebildung in mehr oder weniger polyvalente Bachelor-Master-Studiengänge verändert.
- Die Bildungspolitik hat sich bei den Bildungsstandards für die Schülerinnen und Schüler auf „Regelstandards“ für alle Schularten am Ende der Sekundarstufe I entschieden. Eine nachvollziehbare Fokussierung auf „Risikogruppen“ fand von Anfang an statt, ebenso wie derzeit eine Umorientierung auf das Erreichen von „Mindeststandards“. Auch wenn es nun mit dem Ausweis von Optimalstandards um ein erwünschtes Erreichen von mehr höheren Leistungen gehen soll, blieb und bleibt beim allgemeinen politischen Nachsteuern die Förderung besonders leistungsfähiger Schülerinnen und Schüler nachrangig. Selbst Initiativen der KMK wie „Leistung macht Schule“ fördern nicht insbesondere hochleistende Schülerinnen und Schüler, sondern primär vielfältig, den individuellen Begabungen entsprechend.
- Für die gymnasiale Bildung war und ist eine Orientierung an den Bildungsinhalten traditionell besonders bedeutsam, auch um das vertiefte Nachfragen und eigenständige Arbeiten an konkreten Inhalten der Lernenden zu motivieren. Dies ist im Zuge der Bildungsstandard- und Kompetenzorientierung zunehmend verloren gegangen.
- Die in den aktuellen und früheren Bildungstrends untersuchten Schülerinnen und Schüler konnten in den meisten Bundesländern auch ohne eine verbindliche an den Leistungen der Schülerinnen und Schüler orientierte Grundschulempfehlung auf das Gymnasium überwechseln.
- Die Bildungsminister und -ministerinnen haben bisher die besonderen Belastungen der Gymnasiallehrkräfte konsequent ignoriert. In allen häufig zitierten Lehrerarbeitszeituntersuchungen, begonnen bei Knight-Wegenstein (1973), über die Göttinger Mußmann-Studie (2018) bis hin zur aktuellen sächsischen Arbeitszeitstudie (2025), wurde belegt, dass Gymnasiallehrkräfte im Vergleich mit allen anderen Lehrkräften die höchste Arbeitszeit aufwiesen und aufweisen. Maßnahmen, um dies zu reduzieren, blieben aus.
Die Forderungen des Philologenverbandes zu den zuvor beschriebenen Problemen sind bekannt und müssen hier nicht einzeln wiederholt werden. Lin-Klitzing: „Grundsätzlich ist wichtig, dass sowohl eine höhere gesellschaftliche Leistungsorientierung als auch eine deutliche Schulartspezifik stärker in den Mittelpunkt rücken müssen. Das betrifft die Ausbildung, die Fortbildung, die Bezahlung bzw. Besoldung und die politische Unterstützung der Bedarfe der Gymnasiallehrkräfte für die Umsetzung hoher unterrichtlicher Anforderungen an die gymnasialen Schülerinnen und Schüler, deren spezifische Förderung und deren Leistungsbewertung. Wer jedoch schon bei der Lehrkräftebildung spart und vereinheitlicht, spart in der Konsequenz eben auch die von den gymnasialen Schülerinnen und Schülern zu erbringenden besonderen Leistungen ein – zuungunsten unserer gemeinsamen Zukunft.“
DPhV-Pressemeldung vom 16.10.2025
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