Wissenschaftlicher Beirat zu Bildungssprache Deutsch: Jede Unterrichtsstunde ist eine Deutschstunde 

vom | Kategorie: Berichte

Am 7. Oktober tagte der Wissenschaftliche Beirat des DPhV in Berlin zum Thema „Sprache – Denken – Bildung: Bedeutung der Bildungssprache Deutsch“.
„Ihr Erwerb und ihre souveräne Praxis ist ein Beitrag zur Bildungsgerechtigkeit und zur Studierfähigkeit“, begründete die Bundesvorsitzende Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing die Wahl der Thematik in ihrem Eingangsstatement. „Bildungssprachliche Kompetenzen in der deutschen Sprache sind für alle Schülerinnen und Schüler die wesentliche Voraussetzung zum Lernen und für den Schulerfolg“, heißt es gleich zu Beginn der KMK-Empfehlung „Bildungssprachliche Kompetenzen in der deutschen Sprache stärken“ vom 5. Dezember 2019. Der KMK-Präsident von damals und somit einer der „Väter“ des Dokuments, der hessische Kultusminister Prof. Dr. Alexander Lorz (CDU), begrüßte die Teilnehmenden des wissenschaftlichen Beirates in einer Videobotschaft und verdeutlichte die Zielstellung dieser KMK-Empfehlung. Sie gehe von dem Leitgedanken aus, dass Sprachförderung durchgängig über alle Bildungsetappen hinweg erfolgen müsse – vom Elementarbereich bis in die Sekundarstufe. Die Federführung liege beim Deutschunterricht. Eine nachhaltige Stärkung bildungssprachlicher Kompetenzen könne allerdings nur dann gelingen, wenn sie in allen Fächern umgesetzt werde, „denn jede Unterrichtsstunde ist letztlich auch eine Deutschstunde“, so Lorz.

Vorlaufkurse für alle Kinder mit Schwierigkeiten in Deutsch 

Das Land Hessen habe diese Empfehlung konsequent umgesetzt und im vergangenen Schuljahr ein umfangreiches Maßnahmenpaket eingeführt: Es umfasst unter anderem Vorlaufkurse für alle Kinder im Vorschulalter mit Schwierigkeiten in Deutsch, eine zusätzliche Deutschstunde in der dritten und vierten Jahrgangsstufe, einen verbindlichen Grundwortschatz für die Grundschule, die Festlegung einer verbundenen Handschrift, die Korrektur von Rechtschreibfehlern vom zweiten Halbjahr der ersten Klasse an und eine verstärkte Leseförderung durch eine Mindestanzahl zu lesender Lektüre. „All diese Vorhaben sind Ergebnis eines permanenten Austausches mit Expertinnen und Experten in unseren Schulen und in der Wissenschaft“, erklärte Lorz abschließend und leitete somit in die Tagesordnung über, die in drei Blöcken strukturiert war.

Die Vorträge des ersten Blocks befassten sich mit der Definition und der Bedeutung der Bildungssprache Deutsch für Schülerinnen und Schüler und ihre Lehrkräfte. Prof. Dr. Elvira Topalović von der Universität Paderborn und bis vor kurzem Vorsitzende der Gesellschaft für Hochschulgermanistik im Deutschen Germanistenverband, stellte den Teilnehmenden verschiedene Definitionen des Begriffes ‚Bildungssprache‘ vor. Laut KMK-Empfehlung zeichnet sie sich im Unterschied zur Umgangs- oder Alltagssprache „durch ein hohes Maß an konzeptioneller Schriftlichkeit und ein spezifisches Inventar an lexikalischen, morphosyntaktischen und textlichen Mitteln aus”.

Nach dem Philosophen Jürgen Habermas (1977) fungiert Bildungssprache als eine Art Mittlerin zwischen Wissenschaftssprache und Umgangssprache, nach Ingrid Gogolin (2011) wird Bildungssprache durch sprachliche Bildung in der Schule erworben: „Der Anspruch an die Kinder und Jugendlichen, sich bildungssprachlich auszudrücken und bildungssprachliche Ausdrucksweisen zu verstehen, spielt im schulischen Alltag stets eine Rolle – aber sehr oft wird er nicht explizit gemacht, sondern schwingt implizit in der Art der Kommunikation mit.“

Sprachliche Bildung könne auch als Erwerb bildungssprachlicher Praktiken definiert werden, äußerte Topalović und verwies auf Miriam Morek und Vivien Heller (2012): „So etwa gehört es nicht zum Gattungsrepertoire jeder Familie, unklare Sachverhalte und Begriffe zu klären, widerstreitende Standpunkte argumentativ auszuhandeln und zu begründen oder Konsequenzen oder potenziell problematische Aspekte bestimmter Ansichten oder Entscheidungen abzuwägen.“

Die Referentin stellte nach dieser umfassenden Begriffsbestimmung ein Modell zur durchgängigen Sprachbildung nach Gogolin (2018) vor. Es berücksichtigt Bildungssprache, Alltagssprache, Erst- und Zweitsprache, reicht von Kitas über die Grundschulen, die Sekundarstufen I und II inklusive ihrer Übergänge bis in den Beruf, bezieht Eltern und Familien sowie unterrichtsergänzende und außerschulische Sprachförderung mit ein.

Abschließend beschrieb Topalović sprachliche Bildung als pädagogische Haltung und Habitus und forderte adaptive Lernangebote.

So können Lehrkräfte agieren 

„Lehrpersonen können eine vielfache Rolle bei der Förderung der Bildungssprache ihrer Schüler/-innen einnehmen“, lautete die wichtigste Botschaft im Vortrag von Prof. Dr. Katrin Kleinschmidt-Schinke von der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg, die sie mit Forschungsergebnissen untermauerte. Lehrkräfte könnten als Modelle, als Interaktionspartner/-innen, als Initiator/-innen der expliziten Thematisierung und Reflexion der Formen und Funktionen von Bildungssprache sowie als Initiator/-innen der Produktion von Bildungssprache agieren. Damit könnten Lehrpersonen außerdem zum fachlich-inhaltlichen Lernen der Schülerinnen und Schüler beitragen. Dass die Förderung der Bildungssprache also auch eine Förderung der Fachlichkeit bedeutet, ist eine wesentliche Erkenntnis dieser Tagung. Kleinschmidt-Schinke äußerte zum Abschluss ihrer Ausführungen den Wunsch, dass diese Forschungsergebnisse noch stärkere Berücksichtigung in der Lehrerbildung finden.

Im zweiten Block wurden Forschungsergebnisse zum Beitrag des Erwerbs der Bildungssprache zur Bildungsgerechtigkeit vorgestellt. Dr. Birgit Heppt von der Humboldt-Universität Berlin sprach über nationale und internationale empirische Befunde zu einsprachigen und mehrsprachigen Lernenden. Sie konnte belegen, dass Bildungssprache ausschlaggebend für den schulischen Erfolg ist und dass unter mehrsprachigen Lernenden kein überproportionaler Nachteil beim Bildungsspracherwerb besteht. Abschließend verwies Heppt auf die Notwendigkeit der Bereitstellung von Unterrichtsmaterialien mit konkreten Hinweisen zur sprachlichen Gestaltung des Fachunterrichts und den Nutzen der Verknüpfung von fach- und sprachbezogenen Fortbildungsangeboten.

Der dritte und letzte Block widmete sich schließlich der Rolle der Lehrerbildung.

Prof. Dr. Ilonca Hardy von der Goethe-Universität Frankfurt am Main sprach über empirische Befunde und deren Bedeutung für die Lehrkräfteaus- und Fortbildung.

Lehrkräfte benötigen Wissen zur Struktur der Sprache 

Derzeit fühlten sich viele Lehrkräfte noch nicht hinreichend vorbereitet auf die Gestaltung eines sprachsensiblen Fachunterrichts. Dessen Nutzen lasse sich aber belegen. Und auch wenn einzelne Sprachförderstrategien noch nicht hinreichend erforscht seien, zeigten sich zahlreiche Effekte von Unterricht auf sprachliche und fachliche Kompetenzentwicklung.

Lehrkräfte benötigten hierfür Wissen zur Struktur und Funktion von Sprache, Wissen zu Lernprozessen beim Spracherwerb, insbesondere bei Migration und Mehrsprachigkeit, Wissen zu Methoden und Inhalten der Sprachstandsdiagnostik und -förderung sowie Überzeugungen und eine positive Konnotation von Mehrsprachigkeit.

Wie wird all dies in der Lehrerbildung berücksichtigt? Laut Hardy sei die Heterogenität bei verpflichtenden Studienangeboten noch zu groß, werden Erkenntnisse der Sprachförderforschung noch immer nicht genügend umgesetzt. Immerhin gebe es inzwischen obligatorische Studienanteile in DaZ bzw. Sprachbildung in Berlin und Nordrhein-Westfalen.

Auch in der Fort- und Weiterbildung geschehe noch zu wenig, werden oft nur halb- oder eintägige Veranstaltungen angeboten. Dabei sei die Professionalisierung von Lehrkräften auch in Zeiten des Lehrkräftemangels von großer Bedeutung.

Instrumente zur Förderung der Bildungssprache 

Dr. Martin Blawid, verantwortlicher Fachreferent für den Bereich Deutsch als Bildungssprache im Hessischen Kultusministerium, schlug den Bogen zum Beginn der Tagung und dem Grußwort seines Ministers. Er referierte über Instrumente zur Förderung der Bildungssprache Deutsch in seinem Bundesland, die von Lorz eingangs bereits genannt worden waren: frühkindliche Sprachförderung, die konsequente pädagogisch motivierte Korrektur von Rechtschreibfehlern, eine verbundene Handschrift, zusätzliche Deutschstunden in den Klassen 3 und 4, verstärkte Leseförderung, Fachberatungen für Bildungssprache Deutsch sowie Fortbildungsangebote am Kompetenzzentrum Bildungssprache Deutsch und den Kompetenzzentren für Orthografie, Literatur, mündliche Kommunikation und DaZ.

In ihren Schlussworten bekräftigte die Bundesvorsitzende Prof. Dr. Susanne Lin-Klitzing die Forderung des DPhV nach mehr Deutschstunden in der Grundschule und in der Sekundarstufe, einer größeren Relevanz des Faches Deutsch und der Rechtschreibung in den Klausuren der Sekundarstufe II sowie im Abitur. Zudem müssten längerfristige Lehrerfortbildungsangebote zur Verfügung gestellt werden.

Susanne Lin-Klitzing äußerte sich zudem äußerst erfreut über den Verlauf der Veranstaltung und den fruchtbringenden Austausch zwischen dem DPhV und der Wissenschaft.

Die Vorträge dieser Tagung des Wissenschaftlichen Beirates werden wiederum in einen Band der Reihe „Gymnasium – Bildung – Gesellschaft“ münden.

Von Thomas Langer

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